LIEBESFESSELN, eine Kurzgeschichte
LIEBESFESSELN
Sie fiel ihm erst auf, als er sich zum Gehen anschickte. Sie stand am Rand des Schwimmbeckens im flackernden Licht des Feuers, sah zu ihm hin. Bildete er sich das nur ein? Unauffällig blickte er in ihre Richtung. Kein Zweifel – sie fixierte ihn. Er schaute weg, wieder hin, sie hatte den Blick nicht von ihm abgewandt. Es war ihm unangenehm, er kannte sie nicht.
Wieso starrte sie ihn an? War es Anmache?
Ungewollt musste er an die Beziehung mit Rachel denken, die er eben beendet hatte - er wollte die Bindung nicht, die ihr vorschwebte.
Die Party war öde, seit einer halben Stunde versuchte er sich auszuklinken, aber plötzlich war er unsicher, ob er einen Fehler machen würde, sie sah zu attraktiv aus: gross, schlank, Augen wie eine Katze. Er nahm unkonzentriert am Gespräch teil, das zunehmend ins Blödeln abdriftete, drehte immer wieder den Kopf in ihre Richtung. Sie sah immer noch ungeniert zu ihm hin. Er löste sich aus der Gruppe, schnappte sich ein zweites Glas Sangria, ging zu ihr. Sie war nicht überrascht, als er vor ihr stand. Das Glas Sangria lehnte sie ab.
Wir gingen zu ihr, so als ob es dazu gar keine Alternativen gegeben hätte, und landeten ziemlich schnell im Bett. Es war nicht der Kick, den ich erwartet hatte, sie war zu verbissen und ich zu betrunken.
Der Umstand, dass Sonntag war, eröffnete mir keine glaubhafte Ausrede, damit ich abhauen konnte, obwohl ich meistens auch am Wochenende arbeitete. Ich blieb bei ihr, trank Tee, bestaunte die Wohnung, die asiatisch eingerichtet war: an den Wänden aufgespannte Papierrollen mit japanischen oder chinesischen Schriftzeichen, Urkunden, japanische Schwerter, Bambusstöcke. Sie sei Kendo-Lehrerin, sagte sie beiläufig, so, als sei sie Handarbeitslehrerin. Ich war beeindruckt, was hatte ich Entsprechendes vorzuweisen? Als Lektor eines kleinen Verlags konnte ich nicht erwarten, Eindruck zu erwecken.
Sie zog sich in die Küche zurück, begann Gemüse zu rüsten. Für mich war es die Gelegenheit, mich zu verabschieden. Wir tauschten unsere Profile aus, danach ging ich.
Am Montag kam ein neues Manuskript herein, ich tauchte ab in die Arbeit. Das Brummen meines Handys ignorierte ich, Erst abends gegen neun gab ich meinem Hunger nach, riss mich von Bildschirm und Tastatur los. Während ich die Fertigmahlzeit verdrückte, ging ich meine Mitteilungen durch. Sie hatte mir eine SMS geschrieben.
Wieso nimmst du nicht ab? Ist die Arbeit soooooo wichtig? Ruf bitte zurück.
Es war ein ähnliches Unbehagen, wie vorgestern, als ich sie zum ersten Mal sah und realisierte, dass sie mich anstarrte. Sollte ich zurückrufen? Musste ich zurückrufen? Ich entschied, dass ich mich da grundlos in etwas hineinsteigerte, rief sie an. Entgegen meiner Befürchtung war sie gut aufgelegt, geradezu aufgekratzt. Wann wir uns denn wieder sehen könnten? Sie habe lange Zeit.
Mir ging es zu schnell. Trotzdem sagte ich zu. Morgen Abend zum Nachtessen. Nachtessen … es war offensichtlich, was das heissen würde. Jedenfalls steckte ich meine Zahnbürste ein, als ich mich anderntags kurz nach sechs zu ihr aufmachte.
Sie umarmte mich lange, führte mich ins Wohnzimmer, wo sie auf die am Boden arrangierten Kissen deutete, verschwand in der Küche. Ich schnupperte den Duft von gekochtem Reis und Sojasauce, im Raum schwebten die Klänge von Meditationsmusik. Sie hatte ein japanisches Gericht zubereitet, ein vegetarisches Donburi. Sie sei Vegetarierin, sagte sie überzeugt, nicht entschuldigend. Wir assen im Kerzenlicht an einem niedrigen Tischchen, hockten im Schneidersitz auf den Kissen – jedenfalls unbequem. Ich gab mir Mühe, spielte mit. Offensichtlich trank sie keinen Alkohol, es gab lediglich grünen Tee.
Bisher hatte sie nicht gefragt, was ich arbeite, geschweige, welche Leidenschaften mich trieben. Das blieb auch diesen Abend so. Sie erzählte von sich, von Wettkämpfen, Treffen mit Meistern, Aufenthalten in fernöstlichen Klöstern. Wie sollte ich da nicht staunen, mir umso unbedeutender vorkommen in meiner beschränkten Literaturwelt. Ob ich Sport treibe, fragte sie dann doch. Ich verneinte lächelnd. Sie nickte bloss.
Einen Monat später bin ich bei ihr eingezogen. Ihre Wohnung war bedeutend grösser als meine Bude. Bedingung war, dass ich ein eigenes Arbeitszimmer zur Verfügung hatte. Ja, vor ein paar Tagen fragte sie tatsächlich, was ich denn arbeite.
Literatur, schmunzelte sie. Zu mehr reichte es nicht.
Ich musste mich daran gewöhnen, dass ich nicht mehr bis in alle Nacht arbeiten konnte. Die Nachtruhe war ihr heilig. Gegen zehn gingen wir ins Bett, wobei Bett übertrieben ist. Es waren Tatamimatten, darauf ein harter Futon. Ich musste mich zuerst daran gewöhnen. Bereits nach der zweiten Woche war klar, dass sie ihre messerscharfen Kriterien hatte: Ordnung, Tagesablauf, Sex. Zu Beginn hatten wir jede Nacht Sex, dann reduzierte er sich auf den Dienstag und den Samstag. Die Gründe waren mir nicht klar, aber sie eröffnete die Bedingungen so unmissverständlich, dass ich annehmen musste, nur an diesen beiden Tagen stimme das Tantra für sie.
Trotz aller Askese konnte sie sich hingeben, praktizierte den Geschlechtsakt wie einen ihrer Kämpfe, kompromisslos, leidenschaftlich, hart. Für mich war es eine neue Erfahrung. Ich war froh, dass ich keinen Job hatte, der mich zwingend mit Menschen zusammenführte, darum konnte ich mit den blauen Flecken und Würgemahlen entspannt umgehen. Mehr Probleme hatte ich mit dem geregelten Rhythmus ihrer Hingabe. Ich suchte nach Antworten, redete mir ein, sie müsse sich für diese Art von sexuellem Austausch vorab aufbauen und motivieren.
Nach zwei Monaten fiel der Dienstagabend aus dem Programm. Ich war nicht unglücklich, ja, ich atmete auf. Jetzt konnte ich mich auf den Samstag konzentrieren, begann sogar ein Konditionstraining. Ich erzählte ihr nichts davon, sie hätte mich deswegen ausgelacht.
Die Samstagabende wurden zunehmend intensiver, zunehmend brutaler. Als sie mich beinahe bewusstlos würgte, wehrte ich mich mit einem Schlag meines rechten Knies. Sie war beeindruckt, liess sich aber nicht in ihren sadistischen Spielen bremsen.
Früher traf ich am Samstagabend meine Kumpels. Seit ich bei ihr eingezogen war, hatte ich sie aus den Augen verloren. Selbst als Sven eine Geburtstagsparty gab, schaffte ich es nicht, hinzugehen. Ihr Blick nagelte mich fest, liess mich absagen. Mein Verhalten war kläglich, aber es schien keine Alternativen zu geben. Der Samstagabend war für sie eine Art Heiligtum, das ich nicht antasten durfte. Wenn wir am Abend zusammen kochten, erzählte sie von ihren Kursen, fragte nach meinem Tagesablauf. Zu Beginn interpretierte ich ihre Fragen als Interesse, war geschmeichelt, aber dann verlangte sie immer häufiger Auskunft über meine wenigen Kontakte, wollte wissen, was ich genau machte, wenn ich ein paar Stunden ausser Haus war. Eifersucht? Ich sah darüber hinweg, betrachtete es als logische Folge ihres konsequenten Verhaltens. Aber dann geschah ein Vorfall, der mich stutzig machte: Ich fand mein Handy nicht an dem Ort, an dem ich es abgelegt hatte. Sie konnte mir auch nicht helfen. Aber als ich sie bat, von ihrem Gerät aus meine Nummer zu wählen, meldete sich das Ding in ihrem Trainingsraum. Sie hatte keine Erklärung, meinte ich hätte es vermutlich achtlos liegen lassen. Dabei ist ihr Reich für mich tabu. Ich ging meine Nachrichten durch, erinnerte mich, dass ich Melissa noch eine Antwort schuldig war, aber ich fand die SMS nicht mehr. Ich nahm an, dass sich Melissa nochmals melden würde, wenn sie nichts von mir hörte. Aber sie meldete sich nicht.
Es kam ein zweites Mal vor. Diesmal fehlte eine SMS von Hendrik. Sie war wichtig. Es ging um das Buch. Ich rief ihn zurück. Er war kurz angebunden, beinahe abweisend, jedenfalls so, dass ich nach dem Grund fragte. Ich müsse ihm keine derart unqualifizierten Antworten zurückschicken. Ich erstarrte, sagte, ich hätte ihm keine SMS geschickt.
Kannst du dich nicht mehr erinnern?, sagte Hendrik mit einem sarkastischen Unterton.
Was soll ich denn geschrieben haben?
Ich kann deinem Gedächtnis gerne nachhelfen. Moment. Hier. Steck dir deine Bemerkung in den Arsch.
Scheisse, sagte ich. Das war nicht ich.
Was?, sagte Hendrik.
Sie übte sich gerade im Schwertkampf, als ich sie zur Rede stellen wollte. Ich stand unschlüssig im Türrahmen, fixierte sie. Sie kam langsam auf mich zu, hob das Schwert mit beiden Händen über den Kopf, sodass die Schwertspitze auf mich zeigte, verengte die Augen zu Schlitzen, sagte, wieso störst du mich?
Du hast mein Handy gehackt.
Was?, wieherte sie.
Mim nicht die Unwissende, du hast meine Nachrichten ausspioniert und an meiner Stelle mit Beleidigungen geantwortet.
Bist du paranoid? Komm zu dir, ich will weitertrainieren!
Du streitest es also ab.
Ich streite gar nichts ab, es gibt nichts abzustreiten. Du bist paranoid.
Melissa und Hendrik. Wieso?
Noch nie gehört. Verschwinde!
Es ist so offensichtlich. Du spionierst mir nach!
Plötzlich war die Schwertspitze auf meiner Brust. Sie drückte zu, schob mich zurück, sperrte mich aus, schloss die Tür mit einem Knall. Das Schwert war keine Attrappe! Mein T-Shirt färbte sich rot. Ich rannte ins Bad, riss es mir über den Kopf. Tatsächlich. Ein fünf Zentimeter langer Schnitt. Ich holte Desinfektionsmittel, betupfte die Schramme, die nicht zu bluten aufhörte. Nach zehn Minuten erschien sie, begutachtete die Verletzung wortlos, holte Spezialtape, klebte mir die Wunde zu. Sie schien darin Übung zu haben. Ich hockte benommen auf dem Badewannenrand, war überfordert.
Ich musste es tun! Ich musste den Schritt machen. Es gab für ihr Verhalten keine Entschuldigung. Ich musste es jetzt tun.
Viel war es nicht, was ich zum Haushalt beigetragen hatte, es war problemlos zu verschmerzen. Ich musste lediglich meinen Laptop, den kleinen Drucker und die wenigen Bücher, die ich mitgeschleppt hatte, zusammenpacken. Meine Kleider hatten in einer Tasche Platz. Sie wartete in meinem Arbeitszimmer auf mich. Mit einem überlegenen Lächeln hockte sie auf meinem Schreibtisch, liess die Füsse baumeln, genoss mein Zögern.
Überleg dir gut, was du machst.
Sie stand auf, ging an mir vorbei in die Küche. Wenn ich jetzt abhaue, steh ich auf der Strasse, wurde mir jäh bewusst. In einer Woche musste ich das lektorierte Manuskript abliefern. Ich konnte mir keine Abenteuer erlauben. Wortlos verbrachten wir die nächsten Tage. Am Samstag fiel zum ersten Mal unsere Liebeszeremonie aus. Mir war es recht. Doch um meine Freunde zu treffen, fehlte mir der Mut. Wir richteten uns in unserer Stummheit ein, funktionierten wortlos nebeneinander, setzten uns hie und da gemeinsam zum Essen hin.
Hendrik sagte schliesslich zu, dass ich ein paar Tage – Tage, nicht Wochen, betonte er – bei ihm einziehen könne. Ich hatte das Manuskript abgegeben, fühlte mich von einer Anspannung befreit und wagte, den Schritt zu machen. Als sie einen ihrer Kurse gab, verliess ich mit einem Karton und zwei Taschen die Wohnung, die mir in den letzten Tagen wie ein Verliess vorgekommen war. Am selben Abend rief sie mich an. Ich wollte ihr gegenüber nicht als Feigling dastehen, nahm ab.
Hast du nicht bemerkt, dass dir ein Fehler unterlaufen ist?, fragte sie.
Was meinst du damit?, fragte ich unsicher zurück.
Du hast die falsche Version deines Manuskripts abgegeben. Die letzte Fassung ist hier bei mir. Ich hab sie zur Sicherheit auf meinen Computer geladen. Ich kann sie dir gerne aushändigen.
Ich startete mit zitternden Fingern den Laptop auf, wählte die Schlussfassung, die ich abgeschickt hatte. Datum und Filename stimmten, aber es war eine Vorversion mit vielen Fehlern. Adrenalin schoss mir wie ein Nervengift in die Blutbahnen. Als ich wieder normal atmen konnte, ging ich zu Hendrik, schilderte ihm die Situation. Natürlich drehte er fast durch. Drucktermin, Auslieferung, Buchvernissage! Beschaff sofort die richtige Fassung!
Dann riet er mir dringend, zur Polizei zu gehen und sie anzuzeigen. Zuerst musste ich mich ihrer Bedingung stellen. Noch in derselben Nacht schlief ich bei ihr oder besser mit ihr auf dem Futon. Sie hatte die letzte Version des Manuskripts wie ein Pfand eingelöst.
Ja, ich zog wieder bei ihr ein. Die Samstagabende sind wieder Programm und wir reden wieder miteinander. Ich versuche, mich mit der Situation zu arrangieren, nehme sogar an ihren Kursen teil, trainiere zuhause mit ihr.
Ich befasse mich neuerdings mit fernöstlichen Philosophien. Das hilft mir, mein Leben neu einzurichten. Hendrik hat mich von der Liste gestrichen, ich muss mir einen neuen Verlag suchen.
David Weber